
Deine Gaben sind deine Aufgaben – wirklich?
Deine Gaben sind deine Aufgaben. Wirklich?
(Text im Nachttisch-coach)
„Oh Mann, ist mir langweilig.“
Lustlos liegt Florian auf der kleinen Waldlichtung. Er rollt sich behäbig auf den Rücken, was gar nicht so einfach ist. Schnaubend gibt er es auf, denn die Hornschuppen auf seinem Rücken lassen es nicht so einfach zu.
„So was Doofes. Nicht mal auf den Rücken kann ich mich drehen.“
Missmutig peitscht er mit seinem Schwanz in die Luft. Dabei trifft er eine junge Fichte, die von der Wucht einfach umfällt, und bläst die ersten Rauchwolken in die Luft. Wohin soll er nur mit seiner Energie? Das Drachenleben kann ganz schön öde sein.
„Wenn ich ein Ziel oder eine Aufgabe hätte, könnte ich mich wenigstens dafür einsetzen, als meine Zeit mit Warten zu verbringen.“
Er lässt einen kleinen Brüller los, der als mehrfaches Echo vom nahen Berg zurück geworfen wird.
„Growww!“
„Growww! Growww! Growww!“
„Hallo!“
„Hallo! Hallo! Hallo!“ tönt es zurück.
„Ach Scheiße!“
„Was sagst du da?“
Erschrocken horcht Florian auf.
‚Wo ist das Echo? Wer hat da gefragt?‘
Er versucht es noch einmal:
„Hallo!“
Keine Antwort. Das ist noch nie geschehen. Das Echo war doch immer da. Er versucht es mit noch einem Ruf:
„Haaallo!“
„Du brauchst nicht weiter zu rufen. Ich bin schon da.“
Florian dreht sich vorsichtig in die Richtung, aus der er die Stimme hört und muss sogar nach oben sehen, so groß ist das Wesen, das da auf ihn zu kommt. Und das soll schon etwas heißen! Es sieht aus wie ein riesengroßer Stein mit stämmigen Beinen und ebensolchen Füßen.
„Wer bist du? Und wo ist das Echo?“
„Ich bin der Geist des Berges. Das Echo habe ich kurz abgestellt, damit du mir deine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken kannst. Mein Name ist Rammelsberg.“
„Und was möchtest du von mir?“
Florian wird es ein wenig ungemütlich. Immerhin ist er bis jetzt mit Abstand der Größte hier gewesen. Zum ersten Mal muss er zu jemandem nach oben sehen.
„Ich beobachte dich schon eine ganze Weile. Und bevor du den ganzen Wald abholzt, weil du nichts Besseres zu tun hast, möchte ich dich nun fragen, auf was du eigentlich wartest.“
„Ich dachte, meine Mutter kommt irgendwann zurück. Sie ließ mich alleine hier und sagte nur: ‚Wir sehen uns, wenn du weißt, wer du bist.‘ Aber woher soll ich das wissen, wenn es mir keiner sagt?“
„Hahaha! Das höre ich zum ersten Mal! Deine Mutter ist gegangen, weil du groß genug bist, alleine zu leben. Hat sie dir das nicht gesagt?“
„Nein. Sie sagte nur: ‚Entdecke deine Kräfte und suche dir eine Aufgabe.‘ Meine Kräfte kenne ich schon ganz gut. Nur wie finde ich eine Aufgabe? Hier gibt es nichts zu tun. Ich kann doch nicht den Wald abfackeln oder die Tiere hier kaputt hauen. Deswegen warte ich und habe Langeweile. Doch so langsam werde ich wütend und hätte wirklich Lust, eine große Feuersbrunst zu legen.“
„Da komme ich ja gerade noch rechtzeitig. Wollen wir gemeinsam deine Aufgabe finden? Ich helfe dir gerne.“
„Wenn du meinst. Ich habe ja sonst nichts zu tun.“
„Nun, beginnen wir mit der ersten Lektion. Gib mir eine ehrliche Antwort: Hast du dich selbst lieb?“
Erstaunt sieht Florian den Berggeist an.
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Eigentlich mag ich mich. Doch ich hasse die Fähigkeit, Feuer zu spucken. Das will ich nicht. Ich habe Sorge, dass dann der Wald abbrennt. Und ich versuche, meinen Schwanz still zu halten, damit er nichts kaputt macht. Doch so langsam werde ich immer unzufriedener und manchmal auch wütend, dass es mir egal wird. Manchmal will ich einfach nur los fauchen.“
„Das ist kein Wunder. Wenn deine eigenen Kräfte nicht sinnvoll eingesetzt werden, richten sich diese gegen dich. Langeweile kann tödlich sein. Entweder zerstörst du nun deine Umgebung oder dich selbst. Merke dir Eines: Deine Gaben sind deine Aufgaben. Dazu kommen wir noch.
Kennst du all deine Fähigkeiten? Und sind sie dir bewusst?“
„Nun ja. Ich kann Feuer spucken, ich kann fliegen, und ich habe sehr viel Kraft, weil ich so groß bin. Doch was mache ich damit? Ich möchte nichts zerstören. Siehst du die Eichhörnchen da drüben? Sie wohnen in der alten Eiche. Ich muss meine Kräfte zurück halten, damit sie ihr Zuhause behalten können. Was mache ich nun mit diesen Kräften?“
Frustriert schaut Florian auf den Boden.
„Du hast nur deine körperlichen Kräfte aufgezählt. Was ist mit deinen geistigen Kräften? Du beobachtest die Waldtiere und möchtest ihnen kein Leid zufügen. Warum? Könnte es sein, dass du andere Wesen gerne beschützen möchtest? Könnte es sein, dass du die Schönheit in Allem siehst?“
„Ja. Ich liebe diese kleinen Tiere. Ich liebe überhaupt alles, was hier lebt, die Tiere, die Bäume und auch die Steine.“
„Kannst du dies bitte anerkennen? Du hast in dir eine große Liebe gegenüber der Natur. Und wie ich es über die lange Zeit beobachten konnte, bist du auch sehr loyal. Kannst du dich an die Begebenheit erinnern, als du den Wölfen und den Füchsen ihre Reviere zugewiesen hast, damit sie sich nicht in die Quere kommen? Sie alle haben dich respektiert. Und seitdem grüßen sie sich sogar mit gegenseitiger Toleranz und Freude. Meinst du, so etwas ist selbstverständlich?“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Wenn ich den Eindruck habe, etwas stimmt nicht, spreche ich es aus. Mir ist es wichtig, dass es Allen gut geht. Und ich weiß, dass es für alle Probleme eine Lösung gibt. Und wenn man das Problem einfach nur an- oder auslacht!“
„Und warum lachst du dann deine Langeweile nicht einfach aus? Du hast eine große Weisheit und Liebe in dir und vergißt, dies anzuerkennen, und dich selbst damit zu beschenken!“
Florian stutzt und überlegt.
„Nur was mache ich mit all den Fähigkeiten? Hier im Wald habe ich alles schon geregelt. Und nun gibt es nichts mehr zu tun. Und das Feuer spucken nützt mir hier gar nichts. Ich hasse diese Fähigkeit, denn ich muss immer aufpassen, dass ich es nicht versehentlich aktiviere. Am liebsten würde ich es abstellen.“
„Ho, ho!“ Der Berggeist macht einen weiteren großen Schritt auf den Drachen zu, der nicht weiter zurück weichen kann. Vor Schreck stößt er einen kleinen Feuerstrahl aus, der dem Berggeist allerdings nichts anhaben kann.
„Könntest du dir vorstellen, dass diese besonderen Fähigkeiten für besondere Aufgaben nützlich sein könnten? Merke dir Eines: Wenn du etwas aufbauen willst, musst du auch bereit sein zu zerstören.
Ein Vulkan zum Beispiel hat eine immens große Zerstörungskraft mit seinem Feuer und Lava, dass aus ihm austritt. Bei der Abkühlung des Magmas bilden sich häufig Basaltsäulen, die sehr fest sind und den Menschen wiederum als Baumaterial dienen.
Die Erde, die nach einem großflächigen Brand übrig bleibt, wird zu fruchtbarem Boden.
Was brauchst du, damit du all deine von dir abgelehnten Fähigkeiten anerkennen und lieben könntest?“
„Keine Ahnung. Hier kann ich jedenfalls nichts damit anfangen.“
„Kannst Du deine Fähigkeiten kontrollieren?“
„Ich glaube, ja. Nur wenn ich wütend werde, stoße ich ungewollt eine Flamme aus oder peitsche mit meinem Schwanz zu heftig auf den Boden.“
„Dann übe dich ab sofort in Gelassenheit. Je stärker deine Kräfte, desto besser musst du sie kontrollieren. Lerne, sie mit Weisheit einzusetzen. Nicht umsonst bist du voller Liebe für das Leben und hast einen großen Gerechtigkeitssinn.
Also los! Beginnen wir mit der Bewegung deines Schwanzes. Pikse mich mit der Spitze so, dass du mich zum Lachen bringst. Konzentriere dich! Du hast nur einen Versuch.“
Florian schaut Rammelsberg mit großen Augen an. Das ist ja eine verrückte Aufgabe! Doch der respekteinflößende Berggeist scheint es ernst zu meinen. So betrachtet Florian den großen Körper und beginnt, sich intuitiv in Rammelsberg hinein zu fühlen. Konzentriert bewegt er seine Schwanzspitze an den einzigen möglichen Punkt, der sich richtig anfühlt, und pikst ihn an.
„Hahaha! Hohoho! Hör auf! Du hast gut getroffen!“
Das Lachen tönt durch den ganzen Wald, so dass sogar die Bäume sich zu bewegen beginnen. Ein paar Vögel flattern erschrocken in die Luft.
„Siehst du, wie gut du bist? Das habe ich gewusst und von dir erwartet.
Nun kommen wir zu der nächsten Übung. Lege ein paar kleinere Äste auf einen Haufen und entfache ein kleines, kontrolliertes Feuer. Achte auf den Abstand zu den Bäumen und auf die Windrichtung, damit kein Waldbrand entsteht.“
Auch das gelingt Florian mühelos.
„Wunderbar! Du kannst deine körperlichen Fähigkeiten kontrollieren und verantwortungsvoll einsetzen. Ein Feuer kann zerstören, jedoch auch Leben retten, wenn es richtig eingesetzt wird. Höre auf, deine Fähigkeiten als schlecht abzuwerten. Es geht am Ende darum, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun, auch wenn es Zerstörung heißen sollte.
Möchtest du nun bitte all deine Fähigkeiten anerkennen? Und möchtest du bitte ab sofort dankbar für sie sein?“
„Ja, wenn es sein muss…“
„Anerkennen und Dankbarkeit machen den Weg frei für größere Möglichkeiten. Sobald du mit dir haderst oder etwas an dir ablehnst, blockierst du dich für dein Leben und für dein Weiterkommen.
Gleich wirst du dich auf den Weg machen mit dem Ziel, deine nächste Aufgabe zu finden. Zeige mir bitte noch, wie du dich unsichtbar machst. Denn je nachdem, wo dich dein Weg hinführt, solltest du die Wesen nicht gleich in Angst versetzen. Für die meisten Menschen ist ein Drache sehr furchteinflößend.“
Florian übt ein wenig. Beim dritten Versuch ist er vollständig unsichtbar.
„Na, und worauf wartest du noch? Mach dich los! Dein Ziel wird dich magnetisch anziehen, und du wirst wissen, was zu tun ist.“
Zum Abschied kitzelt Florian Rammelsberg noch einmal, der sich lachend auf den Rückweg macht.
„Gute Reise! Und besuche mich gerne mal wieder. Ich laufe hier nicht weg.“
„Lebe wohl!“
„Lebe wohl! Lebe wohl! Lebe wohl!“ tönt es vom Berg zurück.
@Angelika Schumann 2021
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Was magst du nicht an dir? Was ist der Grund dafür? Bist du für eine Fähigkeit oder ein spezielles Verhalten als Kind getadelt oder gehänselt worden? Könntest du die Meinung anderer Menschen wieder bei ihnen belassen als nicht zu dir gehörig?
Was wäre, wenn du dich nicht verurteilen müsstest, sondern dich ganz und gar akzeptieren könntest? Welche Wunder könntest du vollbringen?
Wäre es an einem anderen Ort, in einer anderen Situation genau das Richtige, was gebraucht würde? Bist du selbst richtig, nur am falschen Ort oder mit den falschen Menschen zusammen?
Mein Tipp an dich: Erinnere dich an deine Kindheit. Was hast du von Herzen gerne getan und hast dabei die Zeit vergessen? Worin bist du ganz aufgegangen? Und schaue dir auch das an, wofür du getadelt worden bist. Was hast du aufgegeben zu sein oder zu tun, um andere nicht zu verärgern oder um die Liebe und Anerkennung nicht zu verlieren?
Schreibe es gerne auf und nimm dir die Zeit, dich wieder damit zu beschäftigen. Erkenne deine Geschenke, die du in die Welt gebracht hast, und erfreue dich an ihnen. Dies wird dir den Weg zeigen zu deinen Gaben und Aufgaben.